Evelyn Bencicova ist eine visuelle Geschichtenerzählerin, die sich nicht nur auf das Genre der Fotografie festgelegt hat, sondern ebenso mit neuen Medien, wie Video oder Virtual Reality, arbeitet. Es ist beeindruckend, wie sie es bereits im Alter von 30 Jahren geschafft hat, eine eigene Handschrift mit hohem Wiedererkennungswert zu etablieren. Besonders faszinieren ihre oft theatralisch wirkenden Bühnenbilder, die zum Teil von surrealistischen Filmregisseuren und der allgemeinen Absurdität und Schönheit des Lebens inspiriert wurden. Diese Künstlerin entführt die Betrachter in eine Bildwelt, in der die Grenzen zwischen Erinnerung, Fantasie und Vorstellung verschwimmen. Ihre narrativen Szenarien bezeichnet Evelyn als „Fiktionen, die auf Wahrheiten beruhen". Menschen und Gegenstände werden in symbolische Umgebungen eingebettet und so im Bild angeordnet, dass sie eine Geschichte erzählen. Die Ästhetik der Kompositionen zieht unsere Aufmerksamkeit zunächst auf sich und verweist im nächsten Moment auf das eigentliche Konzept der jeweiligen Serie. An seltsam anmutende Orten wie sterilen Sanatorien oder vom Verfall bedrohten Schulräumen erkundet sie die Beziehung zwischen Mensch und Architektur. Jedes Detail in ihren Bildern wurde bewusst in Szene gesetzt und ist von Bedeutung. So bilden ehemalige sozialistische Verwaltungsgebäude mit ihren massiven, brutalistischen Strukturen die Kulisse der Serie „Asymptote". Orte, die einst Symbole der Macht waren, sind heute verlassen und vergessen, nur noch Phantome ihrer einstigen Pracht. Hinterlassen wurden jedoch nicht nur Gebäude, sondern auch tief verwurzelte Ideologien, Denk- und Verhaltensmuster. Vergangenheit und Gegenwart, Realität und persönliche Erinnerungen Evelyns, die 1992 in Bratislava geboren und im post-sozialistischen Staat aufgewachsen ist, verschmelzen in dieser Serie.
HINTER DEN FASSADEN
„Die Architektur spiegelt das Regime wider, die Menschen darin sind Teil des Systems, das nur funktioniert, solange es zusammenhält. Alle Körperformen in dem Projekt lassen eine kohärente geometrische Komposition entstehen. Die Menschen darin bilden ein Muster. Jeder wird seiner Individualität beraubt, um zu einer einheitlichen Form zu werden und eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Unterschied eine Anomalie im System darstellt", beschreibt Evelyn Bencicova.
Ihre Serie „Alice", eine Art Selbstporträt, wurde im Rehabilitationszentrum einer psychiatrischen Klinik inszeniert, in der sich die Hauptfigur in einer sterilen, „schönen" Welt wiederfindet. Das Visuelle zieht in Evelyns Werk die Aufmerksamkeit zunächst auf sich, doch die eigentliche Bedeutung verbirgt sich in den subtilen Gesten oder kleineren Details. Diese sind Hinweise auf Spannungen, die hinter der perfekten Fassade lauern. Perfektion als Illusion ist sowohl das Leitmotiv der Serien „Alice" als auch „Artificial Tears".
Die Hauptfigur der Bildreihe „Artificial Tears" hat klassisches weibliches Erscheinungsbild, das auf Stereotypen und Perfektion beruht. Diese Arbeit entstand als Reaktion auf die Frage: Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Maschine? Evelyn Bencicovas Schwerpunkt liegt hier auf kulturell tradierten Vorstellungen vom männlichen Schöpfer und der weiblichen Maschine, der Geschichte von Unterwerfung durch Unschuld, dem Streben nach Gehorsam und künstlicher Perfektion. Sie beschäftigt sich mit dem Moment der Entfremdung des Menschen bei der Ausführung der alltäglichsten Arbeiten, während die Sinnlosigkeit des eigenen Handelns hinterfragt wird. Sie zeigt eine Welt, in der man nach Perfektion als Effizienz strebt und kein Platz für Ungewissheiten, Abhängigkeiten oder Zweideutigkeit ist. Für ihre Kompositionen lässt sich die Fotografin besonders von Orten oder Landschaften beeinflussen, die die Fantasie anregen. Ihre Motivation ist ihre Neugierde und der Wunsch, mehr über die Welt, über sich selbst und andere zu erfahren.